„Dag Bad“ – Der andere Blick
 
Nowottnys souveräne Einbeziehung aller modernen technischen und künstlerischen Mittel der Abbildung in sein Gesamtwerk ermöglicht ihm eine umfassende Klärung aller Aspekte eines Themas. In einer Zeit der allgemeinen Hochspezialisierung wählt er den Weg des Generalisten, der sich über die engen Grenzen der Kunstsparten hinwegsetzt. Man kann hier die Performance nicht vom Gemälde trennen, die Skizze nicht vom Videobild. Jeder der kreativen Arbeitsschritte ist gleichwertiger und eigen-ständiger Teil seines Selbstverständnisses als Künstler, jedes Arbeitsergebnis eigenständiger Teil des Gesamtwerkes. Er lässt uns dabei die Entscheidung, ob wir Betrachter oder Teilnehmer seiner Arbeit werden. Beides kann Spaß machen.
 
Besucht man Michael Nowottny in seinem Atelier auf dem Gelände einer ehemaligen Industrieanlage zur Reparatur von Eisenbahnen, erfährt man viel über die komplexe Arbeitsweise des Künstlers. Der großflächige Raum quillt über von Skizzen, Entwürfen, Regalen, Farbtöpfen, Zeichnungen und Bildern, Bildern, Bildern. Neben im expressiven Stil gemalten Kreuzabnahmen, Aktbildern, Porträts und Stilleben findet man wandgroße Kohlezeichnungen, handgroße Aquarelle, aber auch eine Projektionsfläche für Videofilme.
 
Der Maler Michael Nowottny hat einen Film gedreht. Der Titel ist „Dag Bad“ und auch die Bilder des etwa zwölf Minuten langen Videos kommen dem Betrachter seltsam bekannt vor. Auf Trümmerhügeln stehen bewaffnete und teilweise orientalisch verkleidete Menschen und feiern offensichtlich den gelungenen Abschuss eines Kampfhubschraubers. Eine andere Szene zeigt die nachgestellte Plünderung eines Kunstmuseums. Verschleierte Frauen beklagen den Tod eines Kindes. Die Videobilder sind bewusst frei von jeder filmischen Perfektion, aber sie erzählen erkennbar Geschichten nach, die uns aus den Medienberichten zum jüngsten Krieg der Amerikaner im Irak so vertraut sind. Doch die Bilder zeigen keine Panzer, sondern monströse Bagger, die ein Gebäude zerstören. Es ist das Atelier des Künstlers, das den Plänen eines finanzkräftigen Investors im Wege steht. So versteht sich das Video „Dag Bad“ nicht als plattes politisches Statement zur Beklagung eines fernen Kriegsgeschehens, sondern vielmehr als eine Allegorie der ganz alltäglichen Zerstörung von gewachsenen kulturellen Strukturen, nicht nur im fernen Irak, sondern mitten in Europa.
 
Nowottnys Laien-Darsteller sind Freunde und Bekannte, die ohne genaues Drehbuch handeln. Die Darsteller sind nicht Interpreten oder Statisten seiner Vorstellungswelt, sondern agieren spontan und aus ihrer persönlichen Erinnerung und Empfindung heraus. Sie können frei agieren, weil sie überlieferte Geschichte und bekannte Bilder neu interpretieren und damit einen Bezug zu ihrer eigenen Realität herstellen. Diese Expressivität des Augenblicks nutzt Nowottny dann für seine künstlerischen Kompositionen. In einem nächsten Arbeitsschritt entstehen aus den bewegten Bildern wiederum Skizzen, die später Grundlage für handwerklich perfekte Gemälde sind und sich dann als künstlerische Momentaufnahmen einer erweiterten Wirklichkeit verstehen. Diese Gemälde werden dann wiederum zu Vorlagen für Videofilme, indem der Künstler sie abfilmt und mit Vergrößerungen, Fahrten und Schwenks seine eigenen Arbeiten nonverbal kommentiert.
 
In Nowottnys komplexem künstlerischem System hat das selbst geschaffene, bewegte Bild in Form von inszenierten Videoarbeiten und performativen Aktionen einen hohen Stellenwert. Sein großes Thema ist die Darstellung des menschlichen Lebens als Abfolge sozialer Prozesse. Er sucht nicht das eine, das alles beschreibende Bild, er versucht vielmehr in seinen Arbeiten die Zeitläufigkeit und die Gleichzeitigkeit des sozialen Lebens einfließen zu lassen. Dabei übernimmt er nicht die bereits gefilterten und ausgewählten Bilder der Medienwirklichkeit, sondern er selbst initiiert und inszeniert soziale Ereignisse in der Tradition des Happenings und der Performance. Er verlässt die Abgeschiedenheit des Ateliers und begibt sich in das Zentrum des Geschehens. Er sucht den Kontakt mit den Menschen, die sein Thema sind, und macht sie zu Teilnehmern des künstlerischen Prozesses. Im Zusammenwirken mit anderen Menschen findet er zu einer Ursprünglichkeit und Direktheit, die sich in jedem Teil des Werkes auf den Betrachter überträgt.
 
Die Ereignisse der Welt dringen heute schneller und in der verführerischen Form eines filmischen Hyperrealismus in unser Bewusstsein. Doch diese Medienwirklichkeiten kreieren nur mediale Erinnerungen. Das vorherrschende Medium der kulturellen Erinnerung ist das laufende Bild. Während in früheren Zeiten bereits das Betrachten eines Historienbildes den Menschen das Gefühl der Anteilnahme gab, sind wir heute oft weit davon entfernt die gesehenen Bilder nachzuempfinden und sie mit Leben zu füllen. Wir fühlen uns nahe und sind doch so fern. Der medialen Bilderflut des Informationszeitalters, die unser ikonographisches Gedächtnis immer unpräziser werden lässt, setzt Nowottny eine künstlerische Methode entgegen, welche die Pseudo-Realität der Medienwelt wieder mit dem alltäglich Erlebten verknüpft und sie so auf tiefere Weise erfahrbar macht. Nowottny erinnert uns an den Ursprung unserer sozialen Erinnerungen, indem er uns Anteil nehmen lässt.
 
Michael Staab, 2004
 
Textbeitrag aus:
Michael Nowottny / De l´Apocalypse. Portraits
Kerberverlag 2004